Samstag, 26. Dezember 2015

Freitag, 27. November 2015

Ausnahmezustand und Norm

Ausnahmezustand und Norm
Flüchtlingskrise und Terror reanimieren das Phänomen des Ausnahmezustands

Spätestens seit den verheerenden Terroranschlägen vom 13. November in Paris ist der Begriff des Ausnahmezustands in Europa wieder allgegenwärtig. Das französische Parlament verlängerte den Ausnahmezustand um drei Monate. Der Notstand sieht zum Teil drastische Maßnahmen vor, z. B. Wohnungsdurchsuchungen ohne richterlichen Beschluss sowie Hausarrest für verdächtige Personen.

Dennoch wird die massive Einschränkung der Bürgerrechte aufgrund der weiterhin hohen Terrorgefahr von einer Mehrheit der Bevölkerung begrüßt. Auch in Belgien herrschte bis gestern aufgrund einer akuten Anschlagsgefahr die höchste Sicherheitsstufe, verbunden mit einem massiven Aufgebot an Sicherheitskräften. Insbesondere die Hauptstadt Brüssel befand sich tagelang im Ausnahmezustand.

Und auch im vom Terror bislang verschonten Deutschland ist vielfach vom Ausnahmezustand die Rede, zumeist allerdings im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise. Polizei und Grenzschutz, Mitarbeiter des BAMF sowie freiwillige Helfer sind am Limit ihrer Belastungsgrenze angekommen und arbeiten seit Monaten im Krisenmodus der Ausnahme, der von einem „Normalzustand“ weit entfernt ist.

Ein weiterer, bislang kaum beachteter Ausnahmezustand spielt sich tagtäglich an den europäischen Außengrenzen sowie an den Binnengrenzen zahlreicher Mitgliedsstaaten der Europäischen Union ab. Er besteht im beständigen Verstoß gegen das Grenzregime der EU, dass angesichts der großen Fluchtbewegungen nicht mehr in der Lage ist, die Außengrenzen Europas wirksam zu schützen.

Das Schengener Abkommen, das die Abschaffung von Passkontrollen an den Binnengrenzen zugunsten des Schutzes der Außengrenzen vorsieht, ist durch den anhaltenden Flüchtlingsstrom derzeit faktisch außer Kraft gesetzt. Die permanente Grenzverletzung hat freilich Gründe: Die katastrophalen Zustände in den Flüchtlings-
lagern in Syrien, der Türkei und des Libanon bewegen viele Menschen zur Flucht.

Vordenker des Ausnahmezustands: Carl Schmitt

Die anhaltende Flüchtlingskrise belegt, dass die durch Bürgerkrieg, Terror und wirtschaftliches Elend verursachte Misere nicht länger an den Grenzen Europas Halt macht. Krisensituationen die früher lokal bis regional eingehegt waren, beginnen sich zunehmend zu entgrenzen und ziehen auch unbeteiligte Staaten in ihren Bann. Die Globalisierung von Konflikten und Krisenherden steht dabei wohl erst am Anfang.

Der schleichende Kontrollverlust über die eigenen Landesgrenzen ist eng verzahnt mit der Preisgabe nationalstaatlicher Souveränität. Zur Souveränität eines Landes gehört immer auch die Überwachung der eigenen Staatsgrenze. Der beinah ohnmächtige Verlust des Grenzregimes durch illegalen Grenzübertritt gleicht einem permanenten Ausnahmezustand, da die Ausnahme an die Stelle der Norm getreten ist. 

„Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“, hat der berüchtigte Staatsdenker Carl Schmitt einmal postuliert. Der italienische Philosoph Giorgio Agamben hat auf Basis dieser Definition den Ausnahmezustand einmal als „ununterscheidbaren Raum zwischen Faktum und Recht“ bezeichnet. Die „normative Kraft des Faktischen“ (Georg Jellinek) beherrscht in diesem Sinne die aktuelle Lage. 

Denn dort, wo Entscheidungen nicht mehr aus Rechtsnormen abgeleitet werden, sondern Fakten und Recht allein und unmittelbar aus souveränen Entscheidungen resultieren, ist der Ausnahmezustand angesiedelt. Dies betrifft sowohl permanente Grenzverletzungen als auch alle staatlichen Maßnahmen im Zuge der Terrorbekämpfung, die unter dem Begriff des Ausnahmezustands zu subsumieren sind.

Der „doppelte Ausnahmezustand“ an den Grenzen und im Innern Europas birgt enorme Risiken. Sollte er andauern, kann dies langfristig zu ökonomischen Verwerfungen und Staatszerfall führen; auch die gesellschaftliche Statik könnte destabilisiert werden. Der gegenwärtig zu beobachtende Ausnahmezustand ist damit vor allem eins: das Symptom einer globalen Krise, die längst in Europa angekommen ist.      

Montag, 31. August 2015

Die Mühsal des Daseins

Die Mühsal des Daseins
Camus’ Sisyphos könnte aus Berlin-Friedrichshain stammen. Eine Spurensuche

Das Leben ist nicht immer einfach. Die ewige Sorge ums Dasein kann einen schon mal um den Schlaf bringen oder doch zumindest gehörig die Stimmung verhageln. An manchen Tagen kommt es ja auch knüppeldick: alles Schlechte scheint sich sodann verabredet zu haben, um uns mit List und Gemeinheit die Niederungen des Daseins vor Augen zu führen.

Als literarisches Sinnbild für die ewige Mühsal der Existenz gilt „Der Mythos des Sisyphos.“ Das philosophische Hauptwerk des französischen Existentialisten Albert Camus (1913-1960) beschäftigt sich mit der Absurdität der menschlichen Existenz. Camus’ Held, Sisyphos, wurde von den Göttern dazu verurteilt, unablässig einen schweren Felsblock einen Berg hinaufzurollen.

Sobald Sisyphos den Gipfel des Berges erreicht, rollt der Stein kraft seines eigenen Gewichtes wieder hinab. Alle Arbeit, alle Mühsal ist umsonst. Die Strafe der Götter stellt sich als eine besonders grausame dar, denn sie verurteilt Sisyphos zu einer vollkommen sinnfreien Strafarbeit, welche die Absurdität und Verlorenheit des menschlichen Daseins offenlegt.

Das Spannungsverhältnis zwischen einer vermeintlich sinnlosen Welt und einer menschlichen Existenz, die ihrem Dasein darin einen objektiven Sinn zuschreiben möchte, begründet das Absurde. Nun gibt es auf diesem Planeten Orte, an denen sich Mühsal, Sinnlosigkeit und menschliche Sorge zu einer geheimnisvollen Melange verdichten. Absurde Orte.

Ein ebensolcher Ort befindet sich in Berlin, mitten im Hipster-Stadtteil Friedrichshain. Die Ecke Mühsam-/Sorgestraße ist offenkundig ein solch problembeladener Ort, an dem die ganze Last des Daseins das Individuum zu erdrücken droht. Wie viel Mühsal und Sorge vermag ein Menschenleben an solch bedrückendem Ort schultern? Hat Sisyphos hier einst gelitten?

Problembeladene Zone: Ecke Mühsam-/Sorgestraße

Die Namensgeber der Kreuzung, Erich Mühsam (1878-1934) und Richard Sorge (1895-1944), können keine Auskunft mehr geben, sie sind längst tot. Erich Mühsam war Anarchist und Schriftsteller, der von den Nazis ermordet wurde. Der Kommunist Richard Sorge war als Spion für die UdSSR im Zweiten Weltkrieg aktiv und wurde dort als „Held der Sowjetunion“ verehrt.

In dem Aufbegehren gegen die absurde Existenz erlangt Sisyphos am Ende die Freiheit wieder und kann sich auf diese Weise selbst verwirklichen. Er nimmt sein Schicksal durch Verachtung an und besiegt dadurch das Urteil der Götter - und das alles mitten in Berlin, wer hätte das gedacht! Als ob es hier nicht schon genug bedeutungsvolle Orte von Weltrang gäbe.

Mühsam und Sorge - Nomen est omen auf ewig? Weit gefehlt! Der Philosoph Immanuel Kant (1724-1804) hat drei Dinge auserkoren, die helfen, die Mühsal des Lebens zu tragen: Den Schlaf, die Hoffnung und das Lachen. Das sollte auch an problembeladenen Zonen wie der Ecke Mühsam-/Sorgestraße funktionieren. Aller Absurdität der menschlichen Existenz zum Trotz.

Albert Camus hätte das vielleicht gefallen.

Montag, 27. Juli 2015

Gehen oder Stehen

Gehen oder Stehen
Zwischen Kult und Kommerz: Das Ampelmännchen geht seinen Weg

Der Durchschnittsdeutsche neigt im Allgemeinen zum regelkonformen Verhalten. Besonders gut lässt sich dieses Phänomen an einer x-beliebigen Fußgängerampel beobachten: Ganz vorbildlicher Staatsbürger, bleibt er selbst dann vor dem roten Ampelmännchen, pardon, der rot geschalteten Lichtzeichenanlage stehen, wenn spät in der Nacht kein Auto in Sicht ist und nachahmungswillige Kinder längst in ihren Betten schlummern.

Gesetz ist nun einmal Gesetz und Recht muss Recht bleiben, auch wenn es sich hier „nur“ um die Einhaltung der Straßenverkehrsordnung handelt. Das Erbe des obrigkeitsgläubigen „Untertanen“, von Heinrich Mann in seinem gleichnamigen Roman einst treffend charakterisiert, lässt sich anhand des gesetzestreuen Verhaltens, das sich über Generationen hinweg nur marginal verändert hat, an jeder roten Ampel neu bestaunen.

Die Geschichte der Fußgängerampeln hat infolge der deutschen Teilung indes eine unterschiedliche Entwicklung genommen. Der dürre West-Ampelmann ist seinem ostdeutschen Pendant rein zahlenmäßig zwar weit überlegen; dafür verfügt das grün-rote Strichmännchen im Gegensatz zum Ost-Ampelmann über keinerlei Charme und besitzt wegen der kleineren Lichtfläche im wahrsten Sinne des Wortes nur über eine geringe „Ausstrahlung“.

Denn das von dem Berliner Erfinder Karl Peglau entworfene Ost-Ampelmännchen besitzt viel Fläche für rotes und grünes Licht und ist daher besser zu erkennen als der West-Ampelmann. Darüber hinaus trägt das Ampelmännchen der früheren DDR einen Hut und ist dadurch per se eine kultige Erscheinung. Peglau wurde dabei offenbar durch Staats-
chef Erich Honecker inspiriert, der sich im Sommer gern mit einem Strohhut zeigte.

Berliner Wahrzeichen: das Ampelmännchen
Nach dem Mauerfall drohte dem Ost-Ampelmann ein ähnliches Schicksal wie so manch unrentablem Betrieb: Das Ampelmännchen der DDR wurde sukzessive zugunsten seines schlankeren West-Kollegen ersetzt. Doch es regte sich Widerstand, eines der wenigen, wirklich sympathischen Gesichter des Sozialismus so einfach abzuwickeln. Mit Erfolg - seit 2005 regelt der Ossi mit Hut auch in den West-Berliner Bezirken routiniert den Verkehr. 

2014 erreichte dann die Genderdebatte sowohl das West- als auch das Ost-Ampelmännchen. Diese sind, der Name sagt es ja bereits, durchweg männlich, und im Sinne der Gleichstellungsdebatte unzeitgemäß maskulin. So wurden in Dortmund weibliche Ampelfrauen, die es in Zwickau und Dresden längst gibt, ernsthaft diskutiert; das Vorhaben wurde allerdings von der Dortmunder Stadtverwaltung abgeschmettert.

Auch im Berliner Bezirk Mitte sprach sich die Gleichstellungsbeauftragte für eine paritätische Aufteilung männlicher und weiblicher Ampelfiguren aus. Auf diese Weise solle die Diskriminierung von Frauen abgestellt werden. Zuletzt wurden in Berlin sogar schwule und lesbische Ampelfiguren gefordert, die als Ampelpärchen für mehr Toleranz und Akzeptanz werben sollten. Da fragt man sich schon mal, ob es nicht drängendere Probleme in den Städten gibt.

Der Versuch, mit Ampelfiguren gesellschaftliche und politische Statements ausdrücken zu wollen, erscheint reichlich albern; Gleichberechtigung und mehr Toleranz lassen sich kaum mit einer wie auch immer gearteten Ampel verwirklichen. Bei Fußgängerampeln geht es doch eigentlich nur um eines: „Gehen oder Stehen.“ Ampeln regeln den Verkehr und das kultige Ost-Ampelmännchen tut dies auf seine eigene Weise.

Das Ost-Ampelmännchen hat inzwischen sogar Karriere gemacht: Es wurde durch einen cleveren Geschäftsmann als Nostalgiefigur entdeckt, patentrechtlich geschützt und wird heute in mittlerweile sechs Berliner Shops perfekt vermarktet. T-Shirts, Schlüsselanhänger und Kaffeetassen werden mit dem beliebten Konterfei des Ampelmanns gehandelt, der sich immer mehr zu einem echten Berliner Wahrzeichen mausert.

Werden Sie, werter Leser, nach dieser wechselvollen Geschichte, nun endlich mehr Respekt vor dem Ampelmännchen haben und bei rot auch tatsächlich stehen bleiben? 

Regelt routiniert den Verkehr: der Ampelmann

Montag, 15. Juni 2015

Der Beinahe-Untergang

Der Beinahe-Untergang
Bundesliga-Historie: Der HSV weckte zuletzt Erinnerungen an Tasmania Berlin

Fast wäre es passiert: Der einstmals große HSV, mehrmaliger Meister und Pokalsieger, Europapokalsieger der Landesmeister, Gründungsmitglied der Fußball-Bundesliga und in beinah 52 Jahren niemals abgestiegen, hätte nach einer desaströs schlechten Saison beinah den Gang in die 2. Liga antreten müssen. Und das, obwohl der Verein zuvor mit Millioneninvestitionen in neue Spieler verstärkt worden war.  

Zwischenzeitlich schoss der „Dino“ der Liga so wenige Tore, dass Erinnerungen an die grottenschlechte Tasmania aus Berlin wach wurden. Der Neuköllner SC Tasmania 1900 Berlin spielte in der Saison 1965/66 in der höchsten deutschen Spielklasse. Durch die ständigen Negativvergleiche mit dem HSV wollte ich es einmal genau wissen und bin in die Historie von Tasmania Berlin eingetaucht.

Der DFB entschied im Juli 1965 Tasmania in die Bundesliga aufzunehmen. Grund dafür waren finanzielle Probleme des Stadtrivalen Hertha BSC Berlin (es ging um einen aus heutiger Sicht läppischen Fehlbetrag von 192.000 DM). Hertha wurde vom Spielbetrieb ausgeschlossen. Aufgrund der geringen Spielstärke Tasmanias erntete der politisch motivierte Entschluss des DFB jedoch bei vielen Bundesligisten Kritik.

Tasmania Berlin: schlechtester Club der Ligageschichte

Der Kader von Tasmania erwies sich schnell als nicht konkurrenzfähig: In 34 Ligaspielen konnten die Berliner nur zwei Siege erringen; Tasmania schoss nicht nur die wenigsten Tore (15), der Club kassierte auch die meisten Gegentreffer (108) und errang infolgedessen die wenigsten Punkte (8). Kein Wunder also, dass Tasmania Berlin bis heute der erfolgloseste Verein der Bundesligahistorie ist.

Doch Tasmania stellte weitere Negativrekorde auf: Der Club erlitt die höchste Heimniederlage (0:9 gegen den Meidericher SV), bestritt das Bundesligaspiel mit den wenigsten Besuchern (827) und belegte den letzten Platz in der Ewigen Bundesliga-Tabelle. Tasmanias Abstieg war daher nur folgerichtig. 1973 ging Tasmania schließlich bankrott, wurde später aber als SV Tasmania Berlin neugegründet.

Heimstatt von Tasmania:
Der Werner-Seelenbinder-Sportpark in Berlin-Neukölln

Soweit die Geschichte von Tasmania Berlin. Die hochbezahlten Kicker vom HSV waren in dieser Saison mit 16 erzielten Toren in der Hinrunde und einem 0:8 gegen Bayern München zwar nur fast so schlecht wie Tasmania; durch die beispiellose Misswirtschaft der Vereinsführung (drei verschlissene Trainer!) konnte der Absturz in die Zweitklassigkeit am Ende aber nur knapp in der Relegation verhindert werden.  

Das Getue um die Stadionuhr, welche die Zugehörigkeit des HSV zur ersten Liga als Alleinstellungsmerkmal dokumentiert, sowie das ständige Gerede vom „Dino“ der Liga mussten sich überdies irgendwann einmal rächen: Wer ständig damit hausieren geht, dass er seit 30 Jahren unfallfrei Auto fährt, fordert sein Schicksal geradezu heraus und landet just am nächsten Baum. Genau das wäre dem HSV nun fast passiert.

Spielerisch war der HSV in der abgelaufenen Saison derart schwach, dass der Abstieg sportlich verdient und mithin gerecht gewesen wäre. Aber im Leben gibt es nun mal keine Gerechtigkeit und in einer ergebnisorientierten Sportart wie Fußball sowieso nicht. Glück und Zufall geben oft den Ausschlag. Ob der HSV sich in Zukunft stabilisiert oder weiter auf den Spuren von Tasmania Berlin wandelt bleibt indes offen.  

Montag, 25. Mai 2015

Moderne Völkerwanderung

Moderne Völkerwanderung
Flüchtlingsströme und Armutsmigration halten derzeit Europa in Atem

Nicht nur an der unmittelbaren Außengrenze zur Europäischen Union, im Mittelmeer, sind in diesen Wochen dramatische Fluchtbewegungen zu beobachten; auch in Südostasien haben sich Tausende Bootsflüchtlinge aufgemacht, um Krieg, Armut, Verfolgung und Elend gegen ein Leben in Frieden und Freiheit einzutauschen. Das Risiko der oft lebensgefährlichen Überfahrten nehmen die Menschen dabei bewusst in Kauf.

Hier wie dort sind es skrupellose Schlepperorganisationen, die sich an dem  Flüchtlings-elend bereichern und Flüchtlinge nicht selten auf besseren „Nussschalen“ und Schlauchbooten auf die Überfahrt in eine ungewisse Zukunft schicken. In diesem Frühjahr gab es beinah täglich Meldungen, die von havarierten Booten und dramatischen Rettungsaktionen in Seenot geratener Flüchtlingen kündeten.

Zahlreiche Boote kenterten bei dem Versuch, das Mittelmeer zu überqueren. Allein am 18. April diesen Jahres ertranken über 700 Flüchtlinge im Meer, nur wenige Menschen konnten aus den Fluten gerettet werden. Schätzungen der EU gehen davon aus, dass allein in Libyen bis zu eine Millionen Menschen auf ihre Passage nach Europa warten. Die „Festung Europa“ wird unterdessen weiter von der EU ausgebaut. 

Die Migrationsbewegungen entfalten durch die Benutzung moderner Verkehrsmittel (Flugzeug, Bahn, Auto) eine besondere Dynamik. Denn längst nicht alle Flüchtlinge gelangen auf dem gefährlichen und strapaziösen Seeweg nach Europa. Doch eben jene Bootsflüchtlinge sind es, welche die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit derzeit besonders erregen und die europäischen Institutionen zum Handeln auffordern.

Schaut man in die Geschichtsbücher, so wird man Parallelen erkennen, die dazu berechtigen, dass man von einer modernen Völkerwanderung sprechen kann. Der Historiker Karl Schlögel hat die Erde einmal als „Planet der Nomaden“ bezeichnet, da das Leben auf ihr seit Anbeginn von Wanderungsbewegungen bestimmt ist. Schon früher sind die Menschen ausgewandert, um in der Fremde ihr Heil zu suchen.

Die erste Wanderungswelle der Menschheit stellt die Auswanderung des Homo sapiens aus Afrika vor rund 100.000 Jahren dar. In der Antike kam es infolge der Ausdehnung des Römischen Reiches durch Kriege und Eroberungen zu gewaltigen Bevölkerungs-verschiebungen und Wanderungswellen. Die große Völkerwanderung in Europa datiert 
aus dem 4.-6. Jahrhundert und wurde zum festen Epochenbegriff.

Notaufnahmelager Berlin-Marienfelde, heute ein
Übergangswohnheim für Flüchtlinge und Asylbewerber

Vom 16. bis ins 20. Jahrhundert schließlich vollzog sich ein beispielloser
Migrantenstrom: Die Menschen kehrten dem armen, von Unfreiheit geprägten Europa den Rücken und wanderten in die „Neue Welt“ Amerikas aus. All dies belegt: Solang es Menschen gibt, war ein Teil von ihnen auf der Wanderung in Regionen, die bessere Lebensbedingungen versprachen; derzeit sind weltweit Millionen auf der Flucht.

Dabei sind die Motive für die Auswanderung ebenso verschieden wie die Menschen selbst. Man kann jedoch davon ausgehen, dass die meisten Flüchtlinge ganz einfach von einem besseren Leben träumen - und wer will ihnen das verdenken? Dass durch Migration Grenzen überschritten werden ist dabei ebenso zwangsläufig wie banal. Und genau hier, in den Aufnahmestaaten, beginnt das Problem mit der Migration.

Denn die Zuwanderer sehen sich an ihrem neuen Ort nicht selten mit Vorurteilen und Ängsten konfrontiert. Migration verändert die Zusammensetzung von Gesellschaften. Die Kommunen in den Aufnahmeländern werden dabei nicht selten an die Grenzen ihrer finanziellen Belastbarkeit gebracht. Und doch wird man Zuwanderung als eine historische Realität anerkennen müssen, die sich kaum wirksam begrenzen lässt.

Die Zielstaaten der Migration müssen daher humane Antworten auf die derzeitige Herausforderung einer neuen, globalen Völkerwanderung finden.



Donnerstag, 26. März 2015

Wenn Minister irren

Wenn Minister irren
25 Jahre „Gscheidle-Irrtum“: Wie ein Postminister in Erklärungsnot geriet

Postminister gehören einer politischen Spezies an, die unlängst ausgestorben ist. Zu ihren Aufgaben gehörte die politische Leitung des einstmals staatlichen Post- und Fernmeldewesens. Mit der Privatisierung von Post und Telekom in den 90er Jahren wurden die meisten staatlichen Aufgaben der Behörde obsolet. Das Bundesministerium für Post und Telekommunikation wurde infolgedessen 1997 aufgelöst.

Der Postminister war fortan nicht mehr fester Bestandteil einer Bundesregierung. Ein Blick in die Geschichte des Postministeriums offenbart, dass zahlreiche prominente Politiker als Postminister wirkten: illustre Persönlichkeiten wie Richard Stücklen, Georg Leber, Horst Ehmke und Christian Schwarz-Schilling waren darunter. Meist war das Ressort des Postministers ein Sprungbrett für höhere politische Weihen.

Nicht so im Fall des schwäbischen SPD-Politikers Kurt Gscheidle (1924-2003), der von 1974 bis 1982 Postminister im Kabinett Helmut Schmidts war. Gscheidle dürfte als Politiker heute weithin vergessen sein, sein posthumer Ruhm rührt allein durch den nach ihm benannten, sogenannten „Gscheidle-Irrtum“. Kurt Gscheidle hat es damit sogar bis ins Museum gebracht, aber der Reihe nach.

Kurz vor der Eröffnung der XXII. Olympischen Sommerspiele von Moskau sollte im April 1980 eine Sonderbriefmarke unter dem Titel „Olympiafahne 1980“ erscheinen. Aufgrund des sowjetischen Einmarsches in Afghanistan boykottierte allerdings ein Großteil der Staatengemeinschaft die Olympiade; die Briefmarke wurde daher nicht herausgegeben und alle bereits produzierten Bestände wieder eingestampft.


    Der „Gscheidle-Irrtum“ im Museum: Briefmarken der Serie 
     „Olympiafahne 1980“ im Museum für Kommunikation, Berlin

Nach damals üblicher Praxis waren dem Postminister vorab einige Bögen der Briefmarken als Vorausexemplar zugestellt worden. Diese wanderten durch ein Versehen Gscheidles in den privaten Schreibtisch des Ministers, wo sie zwischenzeitlich in Vergessenheit gerieten. Die Ehefrau des Ministers, Elisabeth Gscheidle, brachte die ungültigen Marken dann ab 1982 in Umlauf - und den „Gscheidle-Irrtum“ in die Welt.

Frau Gscheidle, offenbar ganz sparsame Schwäbin, ahnte nichts von der postamtlichen Ungültigkeit der Briefmarken. Sie versendete gut zwei Dutzend der Marken für private Zwecke und löste Jahre später, ganz unfreiwillig, in der Briefmarkenszene große Erregung aus. Kurt Gscheidle, 1982 schon nicht mehr im Amt, dürfte durch den folgenreichen Schreibtischfund in arge Erklärungsnot geraten sein.

Die Seltenheit des offiziell nicht existenten Postwertzeichens sorgte dafür, dass Sammler in den vergangenen Jahren auf Auktionen große Summen für die Olympiabriefmarken bezahlten. So wurde eine Briefmarke aus dem Gscheidle-Fundus 2010 für 26.000 Euro versteigert; ein anderes Exemplar, das auf einer Postkarte versendet wurde, erzielte auf einer Auktion mit 85.000 Euro den bislang höchsten Erlös.

Eine Marke, mit der Frau Gscheidle eine Postkarte für ein Preisausschreiben frankierte, bescherte ihr immerhin eine Polaroid-Kamera als Gewinn. Angesichts der exorbitanten Wertsteigerung der Gscheidle-Marken war dies rückblickend wohl nur ein schwacher Trost. Immerhin: Ohne den „Gscheidle-Irrtum“ wäre die Philatelie heute sowohl um eine Briefmarken-Rarität als auch um eine launige Anekdote ärmer.