Freitag, 27. November 2015

Ausnahmezustand und Norm

Ausnahmezustand und Norm
Flüchtlingskrise und Terror reanimieren das Phänomen des Ausnahmezustands

Spätestens seit den verheerenden Terroranschlägen vom 13. November in Paris ist der Begriff des Ausnahmezustands in Europa wieder allgegenwärtig. Das französische Parlament verlängerte den Ausnahmezustand um drei Monate. Der Notstand sieht zum Teil drastische Maßnahmen vor, z. B. Wohnungsdurchsuchungen ohne richterlichen Beschluss sowie Hausarrest für verdächtige Personen.

Dennoch wird die massive Einschränkung der Bürgerrechte aufgrund der weiterhin hohen Terrorgefahr von einer Mehrheit der Bevölkerung begrüßt. Auch in Belgien herrschte bis gestern aufgrund einer akuten Anschlagsgefahr die höchste Sicherheitsstufe, verbunden mit einem massiven Aufgebot an Sicherheitskräften. Insbesondere die Hauptstadt Brüssel befand sich tagelang im Ausnahmezustand.

Und auch im vom Terror bislang verschonten Deutschland ist vielfach vom Ausnahmezustand die Rede, zumeist allerdings im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise. Polizei und Grenzschutz, Mitarbeiter des BAMF sowie freiwillige Helfer sind am Limit ihrer Belastungsgrenze angekommen und arbeiten seit Monaten im Krisenmodus der Ausnahme, der von einem „Normalzustand“ weit entfernt ist.

Ein weiterer, bislang kaum beachteter Ausnahmezustand spielt sich tagtäglich an den europäischen Außengrenzen sowie an den Binnengrenzen zahlreicher Mitgliedsstaaten der Europäischen Union ab. Er besteht im beständigen Verstoß gegen das Grenzregime der EU, dass angesichts der großen Fluchtbewegungen nicht mehr in der Lage ist, die Außengrenzen Europas wirksam zu schützen.

Das Schengener Abkommen, das die Abschaffung von Passkontrollen an den Binnengrenzen zugunsten des Schutzes der Außengrenzen vorsieht, ist durch den anhaltenden Flüchtlingsstrom derzeit faktisch außer Kraft gesetzt. Die permanente Grenzverletzung hat freilich Gründe: Die katastrophalen Zustände in den Flüchtlings-
lagern in Syrien, der Türkei und des Libanon bewegen viele Menschen zur Flucht.

Vordenker des Ausnahmezustands: Carl Schmitt

Die anhaltende Flüchtlingskrise belegt, dass die durch Bürgerkrieg, Terror und wirtschaftliches Elend verursachte Misere nicht länger an den Grenzen Europas Halt macht. Krisensituationen die früher lokal bis regional eingehegt waren, beginnen sich zunehmend zu entgrenzen und ziehen auch unbeteiligte Staaten in ihren Bann. Die Globalisierung von Konflikten und Krisenherden steht dabei wohl erst am Anfang.

Der schleichende Kontrollverlust über die eigenen Landesgrenzen ist eng verzahnt mit der Preisgabe nationalstaatlicher Souveränität. Zur Souveränität eines Landes gehört immer auch die Überwachung der eigenen Staatsgrenze. Der beinah ohnmächtige Verlust des Grenzregimes durch illegalen Grenzübertritt gleicht einem permanenten Ausnahmezustand, da die Ausnahme an die Stelle der Norm getreten ist. 

„Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“, hat der berüchtigte Staatsdenker Carl Schmitt einmal postuliert. Der italienische Philosoph Giorgio Agamben hat auf Basis dieser Definition den Ausnahmezustand einmal als „ununterscheidbaren Raum zwischen Faktum und Recht“ bezeichnet. Die „normative Kraft des Faktischen“ (Georg Jellinek) beherrscht in diesem Sinne die aktuelle Lage. 

Denn dort, wo Entscheidungen nicht mehr aus Rechtsnormen abgeleitet werden, sondern Fakten und Recht allein und unmittelbar aus souveränen Entscheidungen resultieren, ist der Ausnahmezustand angesiedelt. Dies betrifft sowohl permanente Grenzverletzungen als auch alle staatlichen Maßnahmen im Zuge der Terrorbekämpfung, die unter dem Begriff des Ausnahmezustands zu subsumieren sind.

Der „doppelte Ausnahmezustand“ an den Grenzen und im Innern Europas birgt enorme Risiken. Sollte er andauern, kann dies langfristig zu ökonomischen Verwerfungen und Staatszerfall führen; auch die gesellschaftliche Statik könnte destabilisiert werden. Der gegenwärtig zu beobachtende Ausnahmezustand ist damit vor allem eins: das Symptom einer globalen Krise, die längst in Europa angekommen ist.