Freitag, 9. November 2012

"Das tritt nach meiner Kenntnis…ist das sofort…unverzüglich!"


"Das tritt nach meiner Kenntnis…ist das sofort…unverzüglich!"
Wie der Jahrhundert-Versprecher des Günter Schabowski vorzeitig den Mauerfall einleitete

Pressekonferenzen sind langweilig. Pressekonferenzen der DDR waren zumeist besonders langweilig. Das lag nicht zuletzt an der in der DDR bis zur Selbstpersiflage praktizierten Politbüro-Sprache, mit deren Hilfe auch die geringsten ökonomischen Erfolge zu großen Errungenschaften im Zeichen von Klassenkampf und Kommunismus verklärt wurden. Pressekonferenzen gehören gemeinhin auch unter freiheitlichen Bedingungen nicht zu den Ereignissen, die von späteren Beobachtern mit den Adjektiven "historisch" bzw. "legendär" gewürdigt werden. 

Die Pressekonferenz, die das SED-Politbüromitglied Günter Schabowski am 9. November 1989 veranstalten ließ, verdient allerdings fraglos die Bezeichnung "historisch", denn die Ereigniskette, die danach in Gang gesetzt wurde, war von bleibender geschichtlicher Bedeutung. Doch der Reihe nach. Schabowski, geboren 1929, hatte in der DDR eine steile Karriere hingelegt und war von einem Journalisten zu einem hochrangigen Funktionär in Partei und Staat aufgestiegen. Bekannt für seinen trockenen Humor, agierte er seit Anfang November 1989 als Regierungssprecher des Regimes.  

Als einer der wenigen Politiker in Ost-Berlin hatte er versucht, die Wende in der DDR aktiv mitzugestalten. Schabowski sprach am 4. November als unerwünschter Vertreter des Regimes u.a. neben Christa Wolf und Ulrich Mühe vor rund einer Million Menschen auf dem Alexanderplatz - und wurde gnadenlos ausgepfiffen. Die Ausreiseproblematik hatte sich seit dem Sommer 1989 weiter verschärft: Tausende Bürger hatten dem Arbeiter- und Bauernstaat über die CSSR und Ungarn inzwischen den Rücken gekehrt. 

Die Führung der DDR verständigte sich daher auf eine neue Reiseregelung und trat angesichts der prekären Lage im Land die Flucht nach vorn an. Die neue Reiseverordnung sollte nicht nur Privatreisen ins westliche Ausland ohne eine Angabe von Gründen ermöglichen, sondern auch ständige Ausreisen über alle Grenzstellen der DDR gestatten. Kontrolliert werden sollte diese Reform auf der Grundlage einer Visaregelung. Die Massendemonstrationen und der permanente Druck der Straße hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Die DDR reagierte, wenn auch spät.

Die neue Reiseverordnung war mit einer Sperrfrist versehen worden: Sie sollte erst am 10. November um vier Uhr morgens in Kraft treten, damit sich die Grenzposten der DDR halbwegs geordnet auf den zu erwartenden Ansturm einstellen konnten. Günter Schabowski wurde damit beauftragt, die im Zentralkomitee der SED verabschiedete Reiseregelung auf einer der täglichen Pressekonferenzen, die live im Rundfunk und im Fernsehen ausgestrahlt wurden, anzukündigen. Am 9. November um 18.53 Uhr nahm die Geschichte dann ihren spektakulären Lauf. 

Ein italienischer Journalist, der offenbar einen Tipp bekommen hatte, fragte Schabowski direkt nach der neuen Reiseregelung, deren epochemachender Inhalt dann vom Regierungssprecher mit jener lapidaren Beiläufigkeit vorgetragen wurde, die später berühmt werden sollte. Auf die Nachfrage eines deutschen Journalisten, wann die Regelung in Kraft treten solle, sprach der ebenso konfus wie fahrig wirkende Schabowski, begleitet von nervösem Zettelgeraschel, dann den berühmten Satz: "Das tritt nach meiner Kenntnis…ist das sofort…unverzüglich!"  

Da nun war Schabowski ein schwerwiegender Lapsus unterlaufen, denn er hatte die Sperrfrist der neuen Reiseregelung in beispielloser Schusseligkeit schlicht übersehen. Wahrscheinlich war er über Inhalt und Ablauf des Reisegesetzes zuvor nicht hinreichend unterrichtet worden. Wie auch immer: Schabowskis Gestammel über die sofortige Geltungskraft der Regelung, das eigentlich mehr Missverständnis als ein klassischer "Versprecher" von der Sorte eines lapsus linguae war, sollte im Verlauf des Abends eine dramatische Eigendynamik entfalten und den Fall der Mauer rapide beschleunigen. 

Tausende DDR-Bürger stürmten in den nächsten Stunden die Grenzpunkte in Ost-Berlin, und die überraschten Grenzposten ließen sie gewähren. Die Neuregelung der Reisefreiheit war mit Moskau nicht abgestimmt; binnen Stunden war die Mauer durchlässig geworden und sollte durch den Ansturm der Menschen noch in der Nacht gänzlich fallen. Die Pressekonferenz am Abend des 9. November 1989 verlief wie so viele zuvor zunächst langweilig, konnte am Ende jedoch mit einer Weltsensation aufwarten: Sie wurde durch Schabowskis Schnitzer zu einem unvergessenen, historischen Moment. 

Danke, Günter.  

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